Die geodätische Stele von Oberhergheim
Inmitten der sanften Landschaft des Elsass, unweit des Dorfes Oberhergheim, erhebt sich ein fünf Meter hoher Obelisk aus rosafarbenem Vogesensandstein. Kein großformatiges Touristenschild weist den Weg, keine Absperrung hält Besucher in Zaum – die Stele steht schlicht da, als sei sie Teil der Landschaft. Doch hinter ihrer unscheinbaren Fassade verbirgt sich eine Geschichte, die in die Epoche Napoleons zurückführt und bis heute Maßstäbe setzt.
Triangulation als Zeitreise
Im August 1804, im Herzen des Ersten Kaiserreichs, beauftragte Napoleon I. den Astronomen Maurice Henry (1763–1825) mit einer Aufgabe, die so nüchtern klingt und doch wie ein Abenteuer wirkt: die präzise Vermessung der Schweiz. Damals eine von Frankreich besetzte Region, die „Hélvetie“, sollte kartografiert werden – nicht per Satellit, nicht per Flugzeug, sondern per geodätischer Triangulation. Maurice Henry wählte eine lang gestreckte, relativ ebene Strecke zwischen Oberhergheim und Sausheim aus. Dort entstanden zwei steinerne Punkte, die „Ensisheim-Basis“ genannt wurde und 19 045,25 Meter maß.
Triangulation basiert auf einfachen, aber genialen Prinzipien: Man misst einen Basisabschnitt am Boden extrem exakt und bestimmt dann mithilfe von Winkelmessungen die Entfernungen zu weiter entfernten Punkten. So entstand mithilfe von Theodoliten und trigonometrischen Formeln ein Dreieck nach dem anderen, das sich bis in die Alpen fortsetzte. Platinlatten, unempfindlich gegen Temperaturschwankungen, markierten die Basis und garantierten eine unveränderliche Referenz. Über 38 Tage hinweg arbeitete Henrys Team, wiederholte jede Messung vielfach und dokumentierte alle Daten akribisch – eine Leistung, die uns heute staunen lässt.
Verborgene Größe
Im Dorfkern von Oberhergheim ahnt man kaum, welch epochales Projekt hier seinen Anfang nahm. Nur wer die Landkarte genau studiert oder sich zu Fuß bzw. mit dem Rad eine Abkürzung über den Vauban-Kanal nimmt, findet den obeliskenartigen Stein. Kein Schild klärt über seine Funktion auf, keine Tafel erinnert an Maurice Henry oder die kilometerlange Basis, die einst die geografische Kenntnis Mitteleuropas revolutionierte. Dabei könnte fast jeder Vorbeigehende für einen Moment innehalten und sich fragen: Was haben diese sechs aufeinandergestapelten Sandsteinblöcke mit digitalen Schnappschüssen und Instagram-Posts zu tun? – Nichts. Und gerade das macht ihren Reiz aus.
Philosophie der Genauigkeit
In einer Zeit, in der wir unsere Position per GPS auf wenige Zentimeter genau bestimmen können und Google Earth uns Berggipfel in Echtzeit zeigt, erscheint die vorsintflutliche Methode der Triangulation geradezu romantisch. Sie lehrt uns Demut: Eine scheinbar banale Vermessung erfordert Geduld, Sorgfalt und die Bereitschaft, die Welt Schritt für Schritt zu erkunden. Wer genau hinsieht, entdeckt nicht nur Koordinaten, sondern auch die philosophische Frage nach unserem Verhältnis zum Raum. Wie viel von der Welt können wir erfassen, wenn wir nur genügend Zeit investieren?
Gleichzeitig verweist die Stele auf die Vergänglichkeit großer Taten. Maurice Henry mag heute in Fachkreisen einen ehrenvollen Namen haben, doch sein Meisterwerk – die Ensisheim-Basis – ist hier fast in Vergessenheit geraten. Der Stein steht ohne Fanfarentusch oder PR-Kampagne, stumm und doch so laut, wenn man genau hinhört: Er spricht von einer Epoche, in der Wissenschaft noch Expedition bedeutete, in der Forschung mit körperlichem Einsatz und unerschütterlicher Neugierde verbunden war.
Monument historique – ein halbes Versprechen
Am 5. Dezember 1979 wurde die Stele offiziell als „Monument historique“ anerkannt. Rein rechtlich genießt sie damit Denkmalschutz. In Sausheim gab es in den 1980er-Jahren eine umfangreiche Restaurierung, inklusive Hinweisschildern und einem kleinen Infopavillon. In Oberhergheim hingegen verweilt die Stele in stolzer Einsamkeit. Ein schmaler Pfad führt zur Basis, doch niemand weist darauf hin, dass man hier auf eine wissenschaftliche Sensation trifft. So bleibt die Stele eine stille Einladung an Entdecker und Langsame: Kommt und schaut selbst, ganz ohne Wegweiser.
Ein Denkmal der Langsamkeit
Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade dieser Obelisk seine Kraft daraus bezieht, uns aus dem Alltagstrott zu reißen. Er erinnert daran, dass die Welt nicht nur aus Schnellstraßen und digital vermittelten Eindrücken besteht, sondern auch aus kleinen, stillen Wahrheiten, die sich nur dem zeigen, der sich Zeit nimmt. Ein Obelisk am Wegesrand – nicht im Rampenlicht, aber im Zentrum dessen, was zählt: Neugier, Genauigkeit und das ungebrochene Staunen über die Welt, die wir messen, benennen und doch nie ganz erfassen können.
Quellenangaben:
Mairie d’Oberhergheim – Stèle géodésique Oberhergheim (https://oberhergheim.fr/le-village-2/monuments-et-patrimoine/stele-geodesique/)
Wikipedia (französisch) – Stèles géodésiques de Sausheim et Oberhergheim (https://fr.wikipedia.org/wiki/St%C3%A8les_g%C3%A9od%C3%A9siques_de_Sausheim_et_Oberhergheim)
Monumentum – PA00085569, Stèle géodésique à Oberhergheim (https://monumentum.fr/monument-historique/pa00085569/oberhergheim-stele-geodesique)
Petit Futé – STÈLE GÉODÉSIQUE Oberhergheim (https://www.petitfute.com/v765-oberhergheim-68127/c1173-visites-points-d-interet/c937-monuments/91796-stele-geodesique.html)
Kommentar hinzufügen
Kommentare
Das Grosse im Kleinen sehen - um daraufhin das Kleine in einen grossen Kontext setzen.
So hast Du das gemacht.
So toll hast Du das gemacht.