Begegnung mit einem Jungen, der nur schlafen will
Es war einer dieser langen, zähen Tage zwischen Regenfronten und Rastlosigkeit. Ich kam gerade aus Dunkerque, hatte beinahe 60 Kilometer in den Beinen, und wollte nur noch ankommen. Mein Hotel lag in Loon-Plage, ein Ort ohne viel Charme – dafür mit einem Namen, der klingt wie aus einem französischen Werbekatalog: „Première Classe“. Billig, funktional, sauber – und doch: an diesem Abend wirkte es auf mich wie ein Palast.
Denn kurz davor, auf der kleinen Straße zwischen Dunkerque und dem Hotel, entdeckte ich etwas, das nicht auf meiner Karte stand. An einem unscheinbaren Grünstreifen, zwischen Bäumen und Gebüsch, lag ein improvisiertes Flüchtlingscamp. Keine Schilder, keine Absperrung – einfach da. Müll. Zerrissene Planen. Zelte, halb eingestürzt. Kinderstimmen, Rauch. Ich stieg vom Rad.
Einer von ihnen winkte mir zu. Shivan, 18 Jahre alt. Kurde aus Nordafghanistan. Seit zwei Jahren unterwegs. „Ich habe nie geplant, so weit zu gehen“, sagte er. „Aber ich musste los. Es gab keine Wahl.“
Er erzählte leise, während wir neben einem verkohlten Einkaufswagen standen, der als Feuerstelle diente. Von der Grenze zum Iran, von türkischen Soldaten, griechischen Lagern, den Zäunen in Ungarn. „Manchmal denke ich, ich habe mein halbes Leben nur damit verbracht, an Orte zu kommen, wo man nicht bleiben darf.“
Plötzlich schob sich mein Hund Benny in unsere Runde. Er schnüffelte an Shivans Jacke, legte den Kopf ruhig in seinen Schoß und schloss die Augen, als wolle er sagen: „Du bist nicht allein.“ Shivan lächelte zum ersten Mal seit unserem Gespräch – ein seltener, warmer Moment. Ihm schien die Berührung sichtbar gutzutun, als hätte dieser Hund einen kleinen Funken Zuversicht entfacht.
Was Shivan will, ist einfach. „Ich will ankommen. Irgendwo. Nur kurz. Vielleicht schlafen, ohne Angst.“ Er schaute dabei nicht mich an, sondern den Boden. Und dieser Satz, so simpel er klingt, blieb mir wie ein Stein im Magen.
In den Lagern rund um Dunkerque, vor allem bei Grande-Synthe, leben aktuell Hunderte Geflüchtete – mal mehr, mal weniger, je nachdem, wie hart Polizeiaktionen zuschlagen oder wie stark der Regen wird. NGOs wie Utopia 56 kümmern sich notdürftig um die Menschen hier, doch der Ort ist keine Unterkunft – er ist eine offene Wunde. Ein Niemandsland zwischen Hoffnung und Auflösung.
Ich fragte ihn, warum er nicht in Frankreich bleibe. Seine Antwort:
„Weil ich hier unsichtbar bin. Ich will irgendwo leben, wo ich gesehen werde. Nicht wie ein Schatten.“
Er zuckte die Schultern, als würde er sich selbst für diesen Wunsch schämen.
Einige Meter weiter stapelten sich nasse Decken, jemand schlief in einem alten Zelt mit zerfetztem Moskitonetz. Ich war nicht lange dort. Vielleicht eine halbe Stunde. Und doch fühlte es sich an wie ein ganzes Kapitel Europa. Nicht das glänzende, sondern das, das niemand gern aufschlägt.
Als ich später mein Hotelzimmer betrat, die Tür automatisch hinter mir ins Schloss fiel und die Heizung surrte, fühlte ich mich wie in einem Paralleluniversum. „Première Classe“. Ein Bett. Eine Dusche. Kein Luxus. Und doch: ein Raum, der mich schützt. Etwas, das für Menschen wie Shivan gerade unvorstellbar scheint.
Ich schreibe diese Zeilen, weil ich glaube, dass man sich erinnern muss an solche Orte. Weil sie nicht irgendwo am Rand sind – sondern mitten in uns. Und weil jeder Kilometer auf meinem Rad manchmal mehr enthüllt als jedes Nachrichtenbild.
Shivan ist 18. Vielleicht wird er es irgendwann nach England schaffen. Vielleicht auch nicht. Ich weiß nur: sein Wunsch zu schlafen, ohne Angst – der sollte eigentlich kein Luxus sein. Aber in Europa 2025 ist selbst das ein Privileg.
Ich habe keine Fotos gemacht. Nicht vom Camp, nicht von Shivan, nicht von dem Ort, der so viel erzählt. Vielleicht aus Respekt. Vielleicht, weil ich gespürt habe, dass Worte in diesem Fall mehr sagen können als Bilder. Oder vielleicht, weil es Momente gibt, in denen die Kamera stört – und Zuhören das Einzige ist, was zählt.

Kommentar hinzufügen
Kommentare