Der prähistorische Brexit – oder: Wie sich die Insel schon vor dem Wählen trennte

Veröffentlicht am 18. Mai 2025 um 10:38

Ich bin mit der Fähre von Dieppe nach Newhaven gefahren.

Zwei Länder, ein Meer, keine Verspätung. Der Himmel: wolkenlos. Das Wasser: spiegelglatt. Die Möwen: höflich still.

Kurz: ideale Bedingungen – für jeden außer mich.

 

Denn während die See sich bemühte, ihre sanfteste Seite zu zeigen, verwandelte sich mein Magen in eine rebellische Unionskritikerin. Ich verbrachte einen guten Teil der Überfahrt damit, mich über die Reling zu beugen – die Klippen der Normandie im Rücken, den Kopf in der Demokratiekrise meines Magens.

Und irgendwann, zwischen Würgereiz und Würdeverlust, kam mir ein Gedanke: Vielleicht war diese Übelkeit nicht nur körperlich. Vielleicht war sie historisch.

 

Denn kurz vor der Abfahrt hatte ich noch die strahlend weißen Klippen der Alabasterküste gesehen – die eindrucksvolle Kreidefront, die sich über 120 Kilometer von Le Havre bis Le Tréport erstreckt.

Und als ich – halb leer, aber nicht ganz tot – in Newhaven ankam, standen sie da: die Seven Sisters.

Ebenfalls Kreide. Ebenfalls majestätisch. Ebenfalls weiß.

Und ich dachte: Das kann kein Zufall sein. Diese Klippen gehören zusammen. Geologisch, emotional, politisch.

 

Vor etwa 450.000 Jahren verband eine Landbrücke das heutige Großbritannien mit dem Kontinent. Dann kam eine gewaltige Flut, die das Band zerriss – und aus Festland eine Insel machte.

Ich nenne es den prähistorischen Brexit:

Eine geologische Trennung, nicht gewollt, nicht geplant, aber dauerhaft.

Und seither üben wir Europäer uns im Entweder-Oder: Drin oder draußen, britisch oder europäisch, Kreide links oder Kreide rechts.

 

Der Unterschied zum modernen Brexit?

Damals war es Wasser.

Heute ist es Wahlvolk.

 

Und während die Erde nur einen Bruch braucht, reicht heute ein Versprechen auf einem roten Bus.

„Take back control“ – und zack, draußen bist du.

 

Dabei zeigen die Klippen: Man kann sich trennen, aber nicht entkommen.

Die Kreide ist dieselbe.

Die Geschichte auch.

Die Illusion von Trennung ist ein Luxus, den sich nur diejenigen leisten, die glauben, dass Zugehörigkeit eine Option sei – und kein Fundament.

 

Ich komme aus der Schweiz.

Ein Land, das Europa gegenüber so tut, als würde es jeden Moment ausziehen – aber dann doch regelmäßig die Wäsche mitwäscht.

Wir unterschreiben keine Beitrittsverträge, aber gerne alle Vorteile.

Wir sind das Airbnb-Gastland der Union: Immer da, nie ganz drin.

Und auch bei uns sieht man, wie leicht sich populistische Reflexe über geologische Tatsachen hinwegsetzen.

 

Denn der Brexit – prähistorisch oder politisch – ist vor allem eines:

Ein Beweis, dass wir Menschen erstaunlich gut darin sind, Dinge zu trennen, die längst zusammengewachsen sind.

Dass wir Grenzen ziehen, wo Kontinente sich verbinden.

Und dass wir glauben, auf einer Insel könne man die Welt aussperren – wenn doch schon das Meer weiß, dass das Unsinn ist.

 

Als ich schließlich festen Boden unter den Füßen hatte – wacklig, aber dankbar – stand ich vor den Seven Sisters.

Sie schwiegen. Würdevoll.

Und ich schwieg auch. Weil ich wusste: Die Antwort auf unsere europäische Frage steht längst in Stein gemeißelt.

Sie ragt weiß aus dem Meer.

Sie sagt: Ihr wart eins. Ihr seid es noch.

Egal, wie oft ihr euch trennt.

 

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Christine A. Jossen
Vor 14 Tage

Die sieben Schwestern haben in Dir einen Bruder gefunden. Fabelhafter Text.

Christoph Tiemann
Vor 14 Tage

Poetisch und politisch!
Es trifft genau mein Empfinden!
Ich habe mich auf den Inseln immer mehr zuhause gefühlt, als im eigenen Land.
Ich hoffe sehr, daß wir Menschen irgendwann wieder schlauer werden und uns auf das besinnen, was uns zehntausende von Jahren durch die menschliche Evolution gebracht hat, GEMEINSCHAFT!!!!
Die Erfindung des Kapitalismus, in der Bronzezeit, war ein großer Irrtum!!!
Mehr davon Chris!!!