Die Wiese öffnet sich vor uns wie ein Stück vergessene Welt. Hohe Gräser, knorrige Stämme, Schatten, die im Wind zittern. Hier treffe ich Erwin Buchstetter. Er ist 68 Jahre alt, seine Hände sind rau, seine Stimme zurückhaltend, fast vorsichtig. Über siebzig Apfelsorten wachsen in seinem Garten, jeder Baum eine Erinnerung, ein Widerstand, ein Stück gelebte Anarchie.
Erwin ist kein braver Pomologe. Zumindest war er es nie. Früher stand er nicht zwischen Bäumen, sondern auf Dächern, in besetzten Häusern, in Bauwägen am Stadtrand. Er lebte den Widerstand. „Wir glaubten, die Welt ließe sich kippen“, sagt er und schaut eine Weile auf einen Stamm, als würde er dort das Gesicht seiner Jugend suchen. Zwei Ehen hatte er, keine hielt lange. „Keine Beziehung hat meinen Widerstand ausgehalten“, murmelt er. Am Ende blieb der Weltschmerz, der ihn in eine Depression stürzte, so tief, dass er beinahe darin versank.
Vor zehn Jahren übernahm er diesen Obstgarten. Zunächst ein Zufall, dann eine Rettung. „Ich hätte damals nicht gedacht, dass mich Bäume am Leben halten würden“, sagt er. Aber genau das ist geschehen. Jeder neue Hochstamm, den er pflanzte, war ein Stück zurückeroberte Hoffnung. Und während die Welt draußen immer noch nach Rendite und Normierung schrie, setzte er hier drinnen auf Vielfalt und Geduld.
Heute ist er ruhiger geworden. Auf Demos sieht man ihn selten. „Ich hab genug gerufen“, meint er, „jetzt pflanze ich.“ Seine Radikalität hat sich in etwas anderes verwandelt: in das stille Beharren, dass Vielfalt nicht verhandelbar ist.
Wir gehen nebeneinander über die Wiese. Ein Baum nach dem anderen erzählt seine Geschichte. Früher waren Streuobstwiesen das Gesicht des Landes: 1,5 Millionen Hektar in den 1950ern, heute noch 300.000. Ein Verlust von 80 Prozent. Mit jeder Rodung verschwand nicht nur Obst, sondern auch Lebensraum. Bis zu 5.000 Arten finden hier Unterschlupf: Spechte, Käfer, Fledermäuse. Heute ist der Streuobstanbau UNESCO-geschütztes Kulturerbe und seit 2022 ein gesetzlich geschütztes Biotop. Klingt groß, doch Papier schützt nicht vor Motorsägen, wenn Pflege fehlt.
Ich frage Erwin, ob ich ihn fotografieren darf. Er winkt sofort ab. „Lieber nicht. Ich habe lange genug mein Gesicht hingehalten. Und wer heute die kapitalistische Ordnung kritisiert, landet schnell in einer Schublade: Spinner, Romantiker, Quertreiber.“ Er weiß, wie gnadenlos Bilder vereinnahmt werden. Vielleicht ist es Scham, vielleicht ist es Stolz, vielleicht schlicht das Wissen, dass wahre Geschichten keine Pose brauchen.
Wir reden über den Handel. Erwin lacht bitter, als er von Gala und Golden Delicious spricht. „Ein paar Sorten, und der Rest wird vergessen.“ Weltweit gibt es 7.500 Sorten, aber im Supermarkt dominieren ein halbes Dutzend. Die Norm regiert: Mindestgröße, perfekte Schale, makelloser Glanz. Alles, was aus der Reihe tanzt, wird aussortiert. Charakter wird zu Abfall.
Dabei könnten gerade die alten Sorten Überlebensgaranten sein. In ihren Genen steckt Widerstandskraft: gegen Schorf, gegen Dürre, gegen Frost. Und genau das brauchen wir, wenn Klimawandel von Prognose zu Dauerzustand wird. 2024 etwa war die deutsche Apfelernte deutlich unterdurchschnittlich – Wetterextreme machten kurzen Prozess.
Doch der Markt will keine Vielfalt, er will Verfügbarkeit. Zwölf Monate im Jahr. Möglich wird das durch CA- und ULO-Lager, wo Äpfel monatelang „schlafen“. Und wenn die Vorräte ausgehen, springen Containerschiffe ein: 2023 importierte Deutschland fast 500.000 Tonnen Äpfel – aus Italien, aber auch aus Chile, Neuseeland, Südafrika. Ein Apfel, der im Nachbargarten wachsen könnte, reist um den halben Globus, um genormt ins Regal zu passen.
Vielleicht ist es genau das, was Erwin gerettet hat: dieser Widerspruch. Hier die Welt der Norm, dort die Republik der Bäume. Hier der glänzende Granny Smith, dort die schrumpelige Goldparmäne, die nach Erde schmeckt. Hier das System, dort die Anarchie der Vielfalt.
Ich sehe ihn zwischen seinen Bäumen stehen. Ein alter Aktivist, der seine Barrikaden gegen Obstbäume getauscht hat. Seine Radikalität ist still geworden, aber sie ist noch da. Jeder Apfel ist für ihn ein Nein zur Monokultur. Jede Sorte, die er veredelt, eine Absage an das System. „Vielfalt bleibt nur, wenn man sie lebt“, sagt er.
Am Ende reicht er mir einen winzigen Apfel, kaum größer als eine Walnuss, übersät mit Punkten. „Der hier hätte im Handel keine Chance.“ Ich beiße hinein. Er schmeckt wie Widerstand: säuerlich, frech, ungezähmt. Kein genormter Einheitsgeschmack, sondern eine kleine Revolution auf der Zunge.
Da denke ich: Vielleicht entscheidet sich die Zukunft nicht in Parlamenten oder Märkten, sondern in Gärten wie diesem. Vielleicht entscheidet sie sich im Einkaufskorb. Vielfalt oder Gleichschaltung. Bürger oder Konsumenten. Geschichten oder Produkte.
Die Republik der Bäume steht noch. Und Erwin, 68 Jahre alt, hält Wache.
Zahlen · Daten · Fakten
Weltweite Apfelsorten: rund 7.500–10.000 beschrieben (NABU Rhein-Lahn).
Streuobstwiesen in Deutschland: ca. 1,5 Mio. ha (1950er) → ca. 300.000 ha heute (–80 %) (NABU Rhein-Lahn).
Biodiversität: Bis zu 5.000 Arten pro Streuobstwiese (NABU).
Immaterielles Kulturerbe: Streuobstanbau seit 2021 im Bundesweiten Verzeichnis (Deutsche UNESCO-Kommission).
Gesetzlicher Schutz: Streuobstwiesen seit 2022 bundesweit Biotope nach § 30 BNatSchG (BMUV).
Deutsche Apfel-Importe 2023: ~498.600 t / 512 Mio. USD; Hauptlieferländer: Italien (~248 Mio.), Chile (~41 Mio.), Neuseeland (~26 Mio.), Südafrika (~24 Mio.) (WITS/World Bank).
Lagertechnik (CA/ULO): Haltbarkeit von Äpfeln bis zu 12 Monate (Storex).
Apfelernte Deutschland 2024: ca. 734.000 t (–26 % unter 10-Jahres-Schnitt) (Tridge).
Apfelernte Deutschland 2025 (Prognose): ca. 1,0 Mio. t, leicht über 10-Jahres-Schnitt (~970.000 t) (Freshplaza).
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Kommentare
Du fängst in diesem Text auf beeindruckende Weise die faszinierende Verbindung zwischen persönlichem Widerstand und der Pflege von Vielfalt in der Natur ein.
Erwins engagierter Einsatz für die Erhaltung alter Apfelsorten und sein stiller Protest gegen die Normierung zeigen, dass sich Anarchie aus der Liebe zur Natur und der Wertschätzung des Ungewöhnlichen speisen kann. Ein schönes Porträt. Danke.