Das Schild war absichtlich in Französisch gemalt. „Café Bij Monique“ – kein Lokalkolorit, keine Dialekt-Anbiederung. Weiß gestrichene Buchstaben auf einem alten, tiefblauen Hintergrund. Kratzig, schief, aber mit Absicht. Die meisten im Dorf fanden es befremdlich. Einige nannten es unhöflich. Aber für Monique war es notwendig. Eine kleine, leise Provokation in einem flämisch geprägten Landstrich, in dem man ihr bis heute das Französischsein nicht ganz verziehen hat.
Ich trat ein, suchte Schatten, fand Monique.
Es war einer dieser Tage, an denen die Sonne unnachgiebig in die Fenster drückt und das Bier schneller schäumt. Innen roch es nach altem Holz, etwas Linoleum, einer Spur Zigarettengeruch, der sich nie ganz vertreiben ließ. Hinter dem Tresen: Monique. Anfang 60, vielleicht etwas älter. Weiße Bluse mit kleinen roten Kirschen, dezent geschminkt, der Lippenstift exakt gezogen. Eine Frau, die sich nicht gehen ließ – aus Prinzip. Ihr Blick ruhig, aber tief. Wie jemand, der gelernt hat, den Schmerz nicht mehr nach außen zu tragen.
„Ein Bier?“, fragte sie.
Ich nickte. Sie zapfte, mit der Ruhe einer, die in der Bewegung Halt findet. Zwei Finger Schaum. Sie stellte es hin, sah mich einen Moment an, als wüsste sie genau, wer ich bin, ohne es zu sagen.
Wir kamen ins Gespräch. Langsam zuerst, dann leichter. Monique hatte diese Art, einem zuzuhören, bevor man gesprochen hatte.
Sie kam aus dem Süden, aus einem Dorf nahe Namur. Ihre Stimme verriet es noch, auch wenn sie sich bemühte, das „r“ nicht rollen zu lassen. „Ich bin vor 30 Jahren hierhergezogen“, sagte sie. „Der Liebe wegen. Natürlich.“
Drei Männer. Drei Versuche, irgendwo anzukommen. Zwei davon endeten mit gebrochenen Armen, einer mit gebrochenem Herzen.
„Der Erste hat mich betrogen, der Zweite hat mich geschlagen, der Dritte hat beides gemacht – und mir danach die Bar überlassen.“ Sie lachte nicht, als sie das sagte. Es war ein Satz, der keiner Pointe bedurfte. Eine Narbe, in Sprache gegossen.
Der letzte Ehemann war aus der Region. Niederländischsprachig, lokal verankert. Einer, der hier alle kannte und sich selbst für unersetzlich hielt. „Er trank zu viel. Und wenn er trank, dann wurde er laut. Und wenn er laut wurde, wurde er gefährlich.“
Monique blieb. Nicht weil sie musste. Sondern weil sie nicht mehr fliehen wollte. „Ich habe so oft neu angefangen. Ich hatte es satt, immer die Koffer zu packen. Ich dachte: Wenn ich schon bleibe, dann mit meinem Namen. Und in meiner Sprache.“
Das französische Schild war ihr stiller Widerstand. Gegen die Blicke im Rathaus. Die herablassenden Bemerkungen beim Einkauf. Das ungefragte Duzen. „Manche hier behandeln dich wie eine zweite Klasse, weil du aus dem Süden kommst. Sie tun freundlich – aber du merkst es im Ton. Im Schweigen. Im Wegsehen.“
Ich fragte, warum sie die Bar weiterführte. Sie hätte längst in Rente gehen können.
„Es reicht nicht“, sagte sie. „Nie gereicht. Zu viele Jahre halbtags, zu viele unbezahlte Stunden, zu viele Rechnungen nach jeder Scheidung. Ich bekomme nicht einmal tausend Euro Rente. Und ich…“ – sie zögerte kurz – „ich brauche diesen Ort.“
Nicht wegen des Geldes. Sondern weil er ihr Struktur gibt. Bedeutung. Vielleicht sogar Würde.
„Hier kommen die Menschen, wenn sie nicht wissen, wohin. Sie erzählen mir Dinge, die sie sonst niemandem sagen. Ich bin keine Wirtin. Ich bin Beichtstuhl, Sprachrohr, stiller Mülleimer für all die Sachen, die keiner hören will.“
Es sei ein hartes Geschäft, sagte sie. Aber es halte sie lebendig. „Ich weiß nicht, wie man das nennt, wenn man Tag für Tag wartet, dass jemand kommt, dem man ein Bier gibt und ein bisschen Hoffnung. Aber ich nenne es mein Leben.“
Ich fragte, ob sie manchmal aufhören wolle.
Sie sah mich an. Lange. Dann sagte sie: „Ich fürchte mich nicht vor dem Tod. Aber ich fürchte, dass mich keiner mehr braucht.“
Draußen brannte die Sonne. Drinnen war es still. Monique wischte ein Glas aus, als ich ging. Nicht hektisch. Nicht gelangweilt. Sondern so, als wäre das Glas etwas, das eine Geschichte in sich trug.
Vielleicht war das ihre größte Stärke: zu sehen, was andere nicht mehr wahrnahmen.
Ein Schild auf Französisch. Eine Bluse mit Kirschen. Und eine Frau, die geblieben ist, wo andere gegangen wären. Nicht, weil es leicht war. Sondern, weil es richtig war.
Als ich zur Tür hinausging, schloss sich die kühle Luft des Raumes hinter mir wie eine schützende Hülle, die ich ungebeten betreten durfte. Die Sonne blendete. Vor mir die Landstraße, daneben Felder, die sich in der flimmernden Hitze auflösten. Hinter mir eine Frau, ein Tresen, ein Ort – leise, standhaft, unbequem.
Café Bij Monique – geschrieben in einer Sprache, die hier nur selten willkommen ist. Und trotzdem ein Ort, an dem man sich gesehen fühlen kann. Vielleicht nicht gefeiert, aber gehört.
Und in einer Welt, in der so viele schreien und keiner mehr zuhört, ist das mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Viel mehr.
Nordbelgien im Mai 2025
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