Ich sitze da, scrollend, müde vom Tag und noch müder vom Zustand der Welt, und dann spuckt mir der Algorithmus wieder so ein Video ins Gesicht. Sepiafarbene Gesichter, weichgezeichnete Stimmen, Pathos in Endlosschlaufe. Früher war alles besser. Früher wussten die Männer noch, dass sie Männer sind. Früher waren Frauen Frauen. Früher hatten Kinder noch Respekt. Früher gab es Ordnung. Früher gab es Werte. Früher, früher, früher. Als wäre früher ein Ort, an den man zurückkehren könnte wie an einen sauberen See, der nie industrialisiert wurde. Als wäre früher nicht auch voller Dreck gewesen, nur ohne Smartphone-Filter.
Ich bin 38. Nicht jung, nicht alt. Ein Fuss im Jetzt, einer schon leicht knirschend in der Zukunft. Alt genug, um mich zu erinnern, wie es war ohne Internet in der Hosentasche. Jung genug, um zu sehen, dass sich die Welt weiterdreht, auch wenn manche sich mit aller Kraft an der Vergangenheit festkrallen wie an einem morschen Geländer. Und ich frage mich immer öfter: Was ist das eigentlich für ein kollektiver Realitätsschwund, an dem wir hier leiden?
Diese Videos, diese Stimmen, diese immer gleiche Handschrift. Alles fühlt sich an wie eine KI, die mit der Angst älterer Menschen gefüttert wurde und sie jetzt wieder auskotzt. Angst vor Bedeutungsverlust. Angst davor, dass die eigene Lebensleistung relativiert wird. Angst davor, dass die eigenen Regeln plötzlich nicht mehr für alle gelten. Und dann kommt dieser Satz, der alles erschlagen soll wie ein Totschlagargument aus dem Altersheim der Debattenkultur: „Ich habe das noch erlebt. Früher war alles besser.“
Nein. War es nicht. Es war anders. Und vieles war verdammt nochmal schlechter. Früher hast du geschwiegen, wenn du anders warst. Früher hast du dich angepasst oder bist kaputtgegangen. Früher hast du deine Identität im Keller versteckt, zusammen mit den Dingen, für die man sich schämen musste. Schwul? Besser nicht drüber reden. Trans? Nicht existent. Geschlechtslos? Ab in die Psychiatrie. Frauen, die mehr wollten als Küche und Kinder? Nervensägen. Männer, die nicht hart genug waren? Schwächlinge. Das war diese glorifizierte Vergangenheit, von der heute manche schwärmen, als hätte sie nur aus Lagerfeuerromantik und Anstand bestanden.
Ich verstehe, woher diese Sehnsucht kommt. Wirklich. Die Welt ist schneller geworden. Unübersichtlicher. Brutaler in ihrer Informationsflut. Wer heute jung ist, trägt mehr Widersprüche im Kopf als frühere Generationen in einem ganzen Leben. Wir verlangen von Zwanzigjährigen emotionale Reife, politische Haltung, mentale Stabilität und Selbstverwirklichung, während wir ihnen gleichzeitig einen Planeten hinterlassen haben, der brennt, ein Rentensystem, das wackelt, und einen Arbeitsmarkt, der sie frisst und wieder ausspuckt. Meine Generation ist da keine Unschuldige. Wir haben mitgemacht, profitiert, zu oft geschwiegen.
Aber genau deshalb geht mir dieses „früher war alles besser“-Gejammer so auf die Nerven. Weil es bequem ist. Weil es Verantwortung auslagert. Weil es so tut, als wäre Fortschritt ein Fehler und Vielfalt ein Angriff. Weil es Konflikte nicht lösen will, sondern konservieren, wie eingemachtes Leid im Keller.
Und ja, auch meine Generation kriegt ihr Fett weg. Wir sind die Generation Ironie. Alles halb ernst, halb egal. Zu cool für klare Kante, zu müde für echte Veränderung. Wir machen auf nachhaltig, aber kaufen weiter billig. Wir regen uns auf, aber bleiben sitzen. Wir lachen über Boomer und benehmen uns selbst oft genug wie verwöhnte Kinder, die glauben, moralische Überlegenheit ersetze Handlung. Auch das gehört zur Wahrheit. Gesellschaftskritik ohne Selbstkritik ist nur ein weiterer Filter.
Aber was mich wirklich wütend macht, ist diese Obsession mancher Menschen mit der Identität anderer. Was zum Teufel geht es dich an, ob jemand geschlechtslos ist? Warum kratzt es so sehr am Ego, wenn sich eine Frau als Mann identifiziert oder ein Mensch sagt: Ich passe in eure Schubladen nicht rein? Deine Freiheit hört doch nicht auf, nur weil jemand anders seine lebt. Religionsfreiheit gilt auch für Dinge, die du nicht glaubst. Wahlfreiheit gilt auch dann, wenn dir das Kreuz an der falschen Stelle sitzt. Freiheit ist kein Kuchen, von dem weniger für dich bleibt, wenn jemand anderes ein Stück bekommt.
Dieses Gerede von „Das darf man ja wohl noch sagen“ ist nichts anderes als die Weigerung, Verantwortung für die Wirkung der eigenen Worte zu übernehmen. Niemand verbietet dir, ein Arschloch zu sein. Aber wundere dich nicht, wenn dir irgendwann keiner mehr zuhört. Respekt ist keine Einbahnstrasse, und Alter ist kein Freifahrtschein für geistige Verweigerung.
Was wir gerade erleben, ist kein Kulturkampf zwischen Jung und Alt. Es ist ein Kampf zwischen Angst und Neugier. Zwischen Menschen, die sich an Gewissheiten klammern, und solchen, die gelernt haben, mit Unsicherheit zu leben. Und ja, Unsicherheit ist anstrengend. Sie zwingt uns, zuzuhören, umzudenken, Fehler einzugestehen. Aber sie ist auch der einzige Ort, an dem echte Freiheit entstehen kann.
Diese KI-Videos, diese nostalgischen Erzählungen, sie sind kein Zufall. Sie sind Trostpflaster für Menschen, die sich abgehängt fühlen. Und sie sind Werkzeuge für jene, die genau dieses Gefühl politisch ausschlachten. Teile die Gesellschaft, sag ihnen, dass sie Opfer sind, und du kannst sie lenken. Nichts Neues. Nur jetzt halt mit besserer Grafik und automatisierter Empörung.
Ich wünsche mir weniger Nostalgie und mehr Ehrlichkeit. Weniger „früher war alles besser“ und mehr „früher war vieles anders und einiges schlechter“. Ich wünsche mir ältere Menschen, die ihre Erfahrung teilen, ohne sie als Waffe zu benutzen. Und jüngere Menschen, die zuhören, ohne sofort die Augen zu verdrehen. Ich wünsche mir Diskussionen, die nicht beim Geburtsjahr enden.
Denn wenn wir uns weiter gegenseitig erzählen, dass die anderen das Problem sind, dann haben wir alle verloren. Dann bleibt nur noch der Rückzug in Echokammern, in denen die Vergangenheit immer schöner wird, je länger man sie anschaut. Und die Zukunft immer bedrohlicher, je weniger man bereit ist, sie mitzugestalten.
Vielleicht ist das die eigentliche Wahrheit, die niemand hören will: Nicht früher war alles besser. Wir waren nur jünger. Und weniger bewusst. Und hatten mehr Dinge, über die wir nicht sprechen durften. Fortschritt fühlt sich unbequem an, weil er uns zwingt, Verantwortung zu übernehmen. Für unsere Worte. Für unsere Freiheit. Für das Miteinander.
Ich bin 38. Ich habe genug gesehen, um zu wissen, dass Nostalgie kein Argument ist. Und noch genug Hoffnung, um zu glauben, dass wir es besser machen können. Wenn wir endlich aufhören, uns gegenseitig zu erklären, warum wir falsch sind, und anfangen zu fragen, wie wir gemeinsam leben wollen. Ohne Angst. Ohne Filter. Ohne diese verdammte Lüge von der guten alten Zeit.
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